» Bei Gott, alle Welt spricht,
und niemand kommt zu Wort. «

» Jeden Tag
     mache dich auf viele Wunder gefaßt. «

» Ein Kind sei euch heiliger als die
   Gegenwart, die aus Sachen
     und Erwachsenen besteht. «

     » Die Poesie ist die Aussicht
aus dem Krankenzimmer des Lebens. «

» Die Bücher sind die
        stehende Armee der Freiheit. «

» Entwirf beim Wein,
         exekutiere beim Kaffee. «

» Hätte ich keine Bücher zu schreiben: ich wäre der beste Ehemann. «

» Niemand hat weniger Ehrgefühl
      als eine Regierung. «

» Ich merke Namen so wenig,
daß ich oft vor dem Spiegel frage,
wie heißt der darin? «

» Auf der Welt ist alles natürlich,
       ausgenommen die Welt selber. «

» Eine Blattlaus hat mehr Ahnen
   als ein Elephant. «

» Er ist ein besonderer Freund
       – von Feinden. «

» Nichts ist fataler, als wenn gerade
die letzte Flasche altes Bier schlecht ist. «

» Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde. «

» Die größten Städte und Genies
sind unregelmäßig gebauet,
voll Sackgassen und Paläste. «

» Man verdirbt unter Leuten,
die einen nicht übertreffen. «

     » Manches »Gesuchte« wäre es nicht,
        wenn der Verfasser mehr suchte. «

» Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar. «

» Die Blumen schlafen,
         aber nicht das Gras. «

» Das Paradies verlieren
und den Paradiesvogel behalten. «

» Unter Denken eines bösen Gedankens
     auf der Gasse ehrerbietig gegrüßt werden. «

» Man kommt leichter zu jedem
     andern als zu sich. «

» Was alles Böses gegen das Bier
     bei Philosophen gesagt wird,
         gilt nicht bei mir. «

» Die Tat ist die Zunge des Herzens.«

» Ein Rathhaus gehört zum Hausrath
       einer Stadt. «

» Weiber sprechen lieber von,
          Männer in der Liebe. «

Attila Schmelzle - Der lutherische Pfarrer

 

von Prof. Dr. Walter Sparn

 

A. Kurze Texte

1. „Denn ein Autor ist der Stadtpfarrer des Universums“ [Ideen-Gewimmel, S. 13] zum Text

2. „Mehr Geistliche bleiben in der Predigt stecken, aber man merkts nicht, weil sie fortsalbadern.“ [Ideen-Gewimmel, Nr. 1228] zum Text

3. „Um es ohne moralischen Schaden und Abkälten auszuhalten, daß man ein Prediger ist, der täglich das Höchste, was man nur verstummend und anbetend denkt, vor der Masse auf- und ausstellen soll, da muß man – – den Unendlichen recht lieben und von ihm nur einfach sprechen, wie das Kind vom Vater.“ [Nr. 1247] zum Text

4. „Es war bei meiner Ordination zum Feldprediger, als ich zum heiligen Abendmahle ging am ersten Ostertag. Während ich nun so dastand, weich bewegt vor dem Altargeländer mit der ganzen Männer-Gemeinde – ja, ich vielleicht stärker gerührt als einer darunter, weil ich als ein in den Krieg Ziehender mich ja halb als einen Sterbenden betrachten durfte, der nun wie ein zu Henkender die letzte Seelenmahlzeit empfängt – so warf in mir, mitten in die Rührung von Orgel und Sang, etwas – sei es nun der erste Osterfeiertag gewesen, der mich auf das sogenannte alte christliche Ostergelächter brachte, oder der bloße Abstich teuflischer Lagen gegen die gerührtesten – kurz etwas in mir (weswegen ich seitdem jeden Einfältigern in Schutz nehme, der sonst dergleichen den Teufel anschrieb!) – dies Etwas warf die Frage in mir auf: „Gäb’ es denn etwas Höllischeres, als wenn Du mitten im Empfange des heiligen Abendmahls verrucht und spöttisch zu lachen anfingest?“ Sogleich rang ich mich mit diesem Höllenhund von Einfall herum – versäumte die stärksten Rührungen, um nur den Hund im Gesichte zu behalten und abzutreiben – kam aber, von ihm abgemattet und begleitet, vor dem Altars-Schemel mit der jammervollen Gewissheit an, daß ich nun in kurzem ohne weiteres zu lachen anfangen würde, ich möchte innen weinen und stöhnen, wie ich wollte...“ (Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz [I/6, 42, Z. 9-30]). zum Text

Diese Texte aus Jean Pauls unveröffentlichtem Nachlass bzw. aus einer 1809 publizierten satirischen Erzählung repräsentieren vier wichtige Aspekte seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen protestantischen Christentum, speziell mit seinen öffentlich bestallten Pfarrern – einem Pfarrhaus entstammte er ja selbst.

(1) Jean Paul setzt sich nicht als professioneller Theologe, sondern als freier Schriftsteller mit diesem Thema auseinander. (2) Er übt scharfe Kritik am konventionellen Pfarrerbild und der damit legitimierten veräußerlichten Praxis. (3) Er vertritt eine aufklärerisch modifizierte, aber bereits auch aufklärungskritische Religiosität, deren Ausdruck aus der christlichen Sprach- und Formenwelt schöpft. (4) Jean Pauls Inszenierungen des Pfarr- und Predigtamtes gehen den Weg der Satire, die eine Balance zwischen Ja und Nein offenhält, und des Humors, der auch lächerliche Menschen als doch auch liebenswert darzustellen vermag.

Zur Textübersicht

Texte "Der lutherische Pfarrer" (vollständig)

Literatur

 

B. Kontexte

1.Denn ein Autor ist ein Stadtpfarrer des Universums“. Jean Paul repräsentiert wie viele protestantische Autoren des aufklärerischen Deutschland einen weitreichenden kulturellen Transformationsprozess: den Ausstieg von Pfarrerssöhnen aus der kirchlichen Amtslaufbahn zugunsten des (auch ökonomisch) riskanten Engagement in der reformerischen Pädagogik, in der Philosophie und Psychologie, vor allem aber in der sich jetzt selbstbewusst entwickelnden deutschen Literatur. Gotthold Ephraim Lessing ist der berühmteste Name.

Auch Jean Paul entstammt einem Pfarrhaus der evangelisch-lutherischen Kirche, in seinem Fall der Staatskirche der Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth; sein strenger Vater war noch der traditionellen orthodox-lutherischen Theologie verpflichtet. Auch Jean Paul begann mit dem Studium der Theologie in Leipzig, 1791, um es 1784, auch aus ökonomischen Gründen, abzubrechen und die folgenden Jahre als Hauslehrer und Vielleser in und um Hof zu fristen (Selberlebensbeschreibung). Der seit 1792 (Die unsichtbare Loge) erfolgreiche und seit 1795 (Hesperus) berühmte und vielgelesene Autor verabschiedet jedoch keineswegs die religiösen und theologischen Themen seiner Anfänge, zumal sich die theologische Situation ihrerseits seit den 1770er Jahren stark veränderte und das kirchliche Christentum hierdurch, aber auch durch die religiöse Krise im Gefolge der Aufklärung und speziell der Französischen Revolution 1789ff in eine schwere Krise geriet. Vielmehr transponiert Jean Paul die religiösen Themen in ein anderes, eben in das literarische Medium – was sie allerdings nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach erheblich transformiert.

Man hat den breiten Prozess der Transformation partikularer dogmatischer Doktrinen in literarische, d.h. universale, jedermann frei anzunehmende oder umzubildende Motive und Perspektiven unter dem Begriff der „Säkularisierung“ gefasst (A. Schöne). Dieser Begriff, oft auch für das allmähliche Verschwinden von Religion aus einer Gesellschaft gebraucht, hat sich allerdings als missverständlich erwiesen und wird heute nur eingeschränkt gebraucht von der Enteignung kirchlicher Güter z.B. durch die Französische Revolution, sowie für die Ablösung der Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit von einer formalen kirchlichen Autorität und Disziplin.

Jean Paul hätte den weiten Begriffsgebrauch zweifellos nicht auf sich angewandt, denn er verstand seine literarische Autorschaft durchaus als einen „Gottesdienst im Musentempel“, dazu bestimmt, dem „Gewimmel im Menschen“ [Nr. 965] und den Widersprüchen in seiner „zertheilten Seele“ [Nr. 966] zur Verständigung über sich selbst zu verhelfen, eine tröstliche Ansicht des oft kläglichen Lebens zu eröffnen und ihn seiner Unsterblichkeit zu vergewissern. Der Autor Jean Paul betätigte sich nie als Apologet des „rechtgläubigen“, d.h. des traditionell dogmatischen Christentums, sondern als Schriftsteller aus einem frommen Herzen: „Mit dem Glauben bin ich kein Christ, aber mit dem Herzen war ich von jeher einer“ [Nr. 1248]. Und als solcher baut er, von keinen äußerlichen Statuten behindert, an der „Himmelsleiter“, die „eine Erde und einen Himmel zugleich“ braucht [Nr. 1229].

Die Art und Weise, in der Jean Paul dies tut, ist jedoch signifikant verschieden von anderen literarischen Transformationen der religiösen Krise der späten Aufklärung. Friedrich Gottlieb Klopstock hatte im Gegenzug zum aufklärerischen Rationalismus das Programm einer „heiligen Poesie“ entworfen und im „Messias“ (1747-1773) realisiert: Der genial inspirierte Dichter wird zum authentischen Prediger. In Reaktion auf die auch intellektuell verschärfte Krise zu Ende des 18. Jh. trat eine „Dichter-Theologie“ hervor, die sich der idealistischen Überwindung der philosophischen Revolution Immanuel Kants anschloss und die Restitution des Heiligen als Poesie erhoffte. Während diese Romantiker entweder auf die Rückkehr ins christliche Mysterium, wie es angeblich die Einheitswelt des Mittelalters bewahrte (Novalis), oder aber auf eine neue, heidnische Götter und Christus versöhnende Mythologie (Friedrich Hölderlin) setzten, wählte Jean Paul andere Wege.

Neben dem philosophischen Diskurs (z.B. Levana oder Erziehlehre, 1806, die sich auch mit der „Bildung zur Religion“ befasst) und des kunstvollen Gesprächs (z.B. Das Kampaner Tal, 1797) sind charakteristisch die in größere Texte eingeschobenen Träume und Visionen (z.B. Die Mondfinsternis, in der humoristischen Idylle Leben des Quintus Fixlein, 1796; Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, im Siebenkäs, 1796) und viele satirische Texte (z.B. der Appendix zum Kampaner Tal, die Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des [Bayreuther] Katechismus, 1797; Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, 1800; Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz, 1809).

2. „Mehr Geistliche bleiben in der Predigt stecken, aber man merkts nicht, weil sie fortsalbadern.“ Jean Pauls Kritik am pflichtmäßigen Konventionalismus der zeitgenössischen Prediger wurde von vielen Zeitgenossen geteilt, zumal hinsichtlich der Pfarrerschaft auf dem Lande, die, wie auch ihre bäuerlichen Gemeindeglieder, (noch) nicht vom aufklärerischen Programm der Bildung und der Selbständigkeit auch in Sachen Religion überzeugt waren. „Fortschrittliche“ Veränderungen wurden aber auch in den Städten nicht von allen Bürgern akzeptiert, wie der Widerstand gegen neue Gesangbücher (1782 in den Markgrafschaften Bayreuth und Ansbach) dokumentiert.

Andererseits war und blieb die Lage der Pfarrerschaft in vieler Hinsicht prekär, einerseits theologisch aufgrund des landesherrlichen Kirchenregiments und zusätzlicher Abhängigkeit von einem adligen Patron, andererseits ökonomisch aufgrund der meist sehr beschränkten Mittel, wie sie auch Jean Paul für seine Kindheit beklagt. In ausreichend dotierte Pfarrstellen zu kommen (und dann heiraten zu können), war keineswegs selbstverständlich: Konsistorien oder Patrone bestimmten, wer aus der Überzahl der theologischen Kandidaten wann, wo und zu welchen Bedingungen ins Amt kam; die Mehrzahl musste lange Zeit auf Hauslehrer- oder Hofmeisterstellen ausharren. Die finanzielle Ausstattung hing vom Wohlwollen bzw. dem Können der Gemeinde ab, es gab keine regelmäßige Besoldung; Landpfarrer mussten meist eine Landwirtschaft betreiben. (Auch Feldprediger Schmelzle konnte nur mit einer erbenden Ehefrau ein besseres Haus führen.) Im Amt musste der Pfarrer, auch wenn gebrechlich und krank, bis zum Lebensende ausharren, wenn er keinen Gehilfen bezahlen konnte; und starb er früh, stürzte die Familie in die Armut ab, wie auch Jean Paul erfahren musste.

Die theologisch und ökonomisch prekäre Lage der Pfarrer und deren Verbesserung wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts selber zum Gegenstand der Literatur und damit auch der Diskussion in der „Öffentlichkeit“, die sich in dieser neue Zeit ausbildete und in zahlreichen Periodika und Rezensionsorganen artikulierte. Die vielleicht wichtigste war die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die zwischen 1765 und 1805 ca. 80.000 Neuerscheinungen besprach, darunter auch von Jean Paul. Herausgeber war der von diesem wegen seiner aufgeklärten Rechthaberei nicht sehr geschätzte Friedrich Nicolai, dessen Reisebeschreibungen aber viel gelesen wurden, wie auch sein Pfarrer-Roman Sebaldus Nothanker (1773-1776).

Dieses Buch ist die beste Quelle für die ökonomischen und die theologischen Probleme der Pfarrer in der Zeit des jungen und mittleren Jean Paul. Mit diesem teilt es übrigens einen satirischen Zug sowie die Gegnerschaft sowohl zu den oft noch kirchenleitenden Orthodoxen als auch zu den moralistisch-gesetzlichen Pietisten unter den Pfarrern und Patronen als auch zur Genieästhetik der empfindsamen „schönen Seelen“; nicht zuletzt die Kritik an Goethe und an I. Kant. Im Unterschied zu Jean Paul hatte Sebaldus Nothanker allerdings ein Pfarramt zu verlieren, als er sich von „dogmatischen Wahrheiten“ abwandte und sich auf die „moralischen Gesetze“ konzentrierte und damit seine Verpflichtung auf die symbolischen Bücher, d.h. die lutherischen Bekenntnisschriften verletzte. Auch Goethes fiktive und anonym erschienenen Briefe eines Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773) versuchen, den Übergang in ein neues Pfarrerbild verträglich und der Lehre und Liebe Christi entsprechend zu gestalten. Dagegen bringt Johann Heinrich Voss’ ländliche Pfarrhaus-Idylle bürgerliche Aufklärung und religiöse Toleranz allzu harmonistisch in Hexameter bringt (Luise, 1783-1794).

3. Um es ohne moralischen Schaden und Abkälten auszuhalten, daß man ein Prediger ist, der täglich das Höchste, was man nur verstummend und anbetend denkt, vor der Masse auf- und ausstellen soll, da muß man – – den Unendlichen recht lieben und von ihm nur einfach sprechen, wie das Kind vom Vater.“

In der Zeit Jean Pauls wurden die aufklärerischen Motive und Ideen, die in der akademischen Theologie seit der Jahrhundertmitte zutage traten und seit 1765 in einigen Kirchenleitungen Fuß fassten, auch in der kirchlichen Praxis wirksam; am entschiedensten unter Friedrich II. in Brandenburg-Preußen und im benachbarten Braunschweig. In der Berliner Kirchenleitung war auch der Pfarrer als Propst und Oberkonsistorialrat tätig, der das religionsphilosophische Programm des aufklärerischen Protestantismus verfasst hatte: Die Bestimmung des Menschen, zwischen 1748 und 1794 in 14 Auflagen, vielen Raubdrucken und in Übersetzungen (allein drei französische) erschienen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Jean Paul dieses immer erweiterte Buch nicht gekannt hat; auf jeden Fall teilt er mit ihm (und mit der fortschreitenden Aufklärung insgesamt) die Fokussierung der geistigen und kulturellen Interessen auf den Menschen, seine vernünftige Selbsterfahrung, seine affektiven Turbulenzen, seine moralische Selbstfindung und seine religiöse Vergewisserung einer besseren Zukunft.

Mit einer gewissen Verzögerung wurde diese fromme Aufklärung auch in den fränkischen Markgrafschaften wirksam; ihr neigten auch Jean Pauls frühe, den streng-orthodoxen Vater konterkarierenden Lehrer zu. Jean Paul hat sie einerseits kritisiert wegen ihres offensiven Optimismus, der sie den noch zurückgebliebenen Schäflein gegenüber auch recht autoritär aufzutreten berechtigte; andererseits hat er der Neologe – zunächst ein Schimpfname für die Aufklärer unter den Theologen – 1782 zugestanden: „Die neuen Theologen haben mit dem Weg zum Himmel eine Wegreparatur vorgenommen“ (Nr. 1216).

Mit der Neologie geht Jean Paul auch insofern einig, als die anthropologische Wende der Theologie eine historische Kritik der überlieferten Dogmatik (und erst recht am populären Aberglauben) einschloss; für ihn ist sie als quasi metaphysischer Wahrheitsanspruch schon obsolet. Dieser Prozess der Emanzipation betraf auch die Bibel, deren historisch-kritische Exegese sich seit den 1770er Jahren Bahn brach, und er betraf die „Reinigung“ des Kultus, beginnend mit der Aufhellung der Kirchenräume, der Abschaffung der Beichtstühle für die Einzelbeichte bis hin zur Weglassung des Exorzismus (Absage an den Teufel) in der Taufe; in Bayreuth-Ansbach geschah dies um 1790. Wie die Neologie stand auch Jean Paul dem katholischen Kirchenwesen und dem (traditionellen) Judentum verständnislos ablehnend gegenüber.

Die konstruktiven Leistungen der Neologie betrafen z.B. die Einführung neuer Gesangbücher, sondern auch und vor allem Verbesserung der Predigt und des Unterrichts. Seit J.J. Spaldings Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes (1772) breit diskutiert, wurde die Predigt entlastet von kalter dogmatischer Belehrung zugunsten der „Kanzelrede“, die in volksnaher, einfacher Sprache persönliche Empfindung und Überzeugung ansprechen und das Vertrauen in die göttliche Vorsehung, in Gottes treuen Vaterliebe stärken sollte. Lebenspraktische Nutzbarkeit war auch Ziel einer Reform der Katechese (nicht zufällig strebt der vormalige Feldprediger Schmelzle eine katechetische Professur an!); erstmals wurden die Kinder (wie Jean Paul Rousseau folgend) nicht bloß als kleine Erwachsene behandelt, ihre religiöse Erziehung wurde gesamtkulturelle eingebettet. In Jean Pauls Umwelt ist dafür charakteristisch das erfolgreiche Wirken der Erlanger Professors Georg Friedrich Seiler, der Kinder sogar in die Vorlesung mitnahm, und dessen Katechismus

Die Religion der Unmündigen (1773, 61777 u.ö.) Jean Paul bekannt gewesen sein dürfte. Das gilt gewiss auch für das ebenso erfolgreiche volksaufklärerische Werk Seilers, Allgemeines Lesebuch für den Bürger und Landmann, (1791, 121802), das von der Geographie über das Rechtswesen und die Landwirtschaft bis zu Tischgebeten so ziemlich alles enthält, was man in Oberfranken wissen musste.

Dies alles ging in die Ausbildung der theologischen Kandidaten ein und kreierte eine neues Pfarrerbild, das sich bis ins frühe 19. Jahrhundert in weiten Kreisen durchsetzte. Allerdings war es öffentlich nie unumstritten; der in biblizistischen Erweckungsbewegungen sich erneuernde Pietismus machte es für die 1800 auffällig werdenden Schwächung der bislang selbstverständlichen Kirchlichkeit („Entkirchlichung“) verantwortlich. In Reaktion auf den Terror der Französischen Revolution und die Repression durch die Napoleonischen Kriege wurde Aufklärungskritik aber auch zur intellektuellen Option. Für Jean Paul bedeutete sie die Abwendung vom Subjektivismus der Philosophie I. Kants und der idealistischen Zuspitzung in der Ich-Philosophie Johann Gottlieb Fichtes (Clavis Fichtiana, 1800) zugunsten einer Philosophie, in der Glaube und die Vernunft nicht (tendenziell atheistisch) verschmelzen, der Sprung in den Glauben vielmehr seine eigene, unabweisliche Notwendigkeit hat Plausibilität hat; mit dem „Glaubensphilosoph“ Friedrich Heinrich Jacobi wechselte Jean Paul jahrelang Briefe zum Thema „Gott“, „Unsterblichkeit“ und das Göttliche im Menschen. Sein Gottesbild hatte ein theistisches, d.h. um spezifisch christliche Züge bereinigtes Profil, ja konnte sich deistisch geben: „Die Gottheit (es ist besser als zu sagen Gott) offenbart sich entweder immer und überall oder nie; Völker, Zeiten gehen die Unendlichkeit nichts an und wir machen ihn erst zum Vater damit er mit uns kindisch sei“ (1819, Nr. 1245).

 

4. Es war bei meiner Ordination zum Feldprediger ...“ Diese Szene erzählt der Pfarrer Attila Schmelzle als „eine der frechsten“ seiner „toll-kecken Phantasien und Gelüste“ in einem Rundbrief an seine Freunde zuhause. Dieser Brief tritt Gerüchten entgegen, dass Schmelzle als Feldprediger bei einer wichtigen Schlacht Reißaus genommen und auch nach dem Sieg nicht zu finden gewesen sei: Er habe sich mehrere Stunden vorher viele Meilen rückwärts abgesetzt, wo ihn die geschlagene Truppe unvermeidlich hätte treffen müssen (Einleitung). Zum Beweis seiner Heldenhaftigkeit („Attila“) erzählt er den Freunden von seiner „Ferien-Reise“ in die Residenzstadt Flätz, während der er, begleitet von seinem leichtfertig-tollkühnen Schwager, viele schlimme Gefahren zu bestehen hatte.

Begabt mit äußerst erregbarer Fantasie gibt Schmelzle eine bis zur Skurrilität ängstliche Figur ab, umso lächerlicher, als er bei jeder Gelegenheit, auch in seinen Träumen, den Helden mimt, in der von schrecklichen Menschen gefüllten und von Gewittern etc. bedrohten Kutsche, im Gasthof zum Tiger(!) oder in der Hofkirche zu Flätz. Das Ziel der Reise, statt der verlorenen Stelle eine katechetische Professur zu erhalten, verfehlt er grotesk – seine ihm nachgereiste junge Frau Berga, „eine ins Leben hineinhoffende und hineinliebende Seele“, liebt auch so den „Löwen“, als welchen sich Schmelzle sieht und gleich neben M. Luther rückt. Sein Brief ist also eine unfreiwillige Beichte, bar jeglicher Reue, aber gerade so ein vielsagendes „will- oder unwillkürliches Luststück“, wie die Vorrede Jean Pauls vom Monat des Tilsiter Friedens 1807 sagt.

Der Rundbrief ist implizit eine Predigtparodie, erkennbar in der mehrfachen Dreiergliederung und in vielen Details. Schmelzle schreibt sich in der Kutsche eine vielleicht eines „Menschen-Rettungs-Preises“ würdige Predigt zu, bei Tisch, wo es um den Teufelsglauben geht, „Kanzel-Feuer“ und beim Minister „Feuerworte“. Die Pointe ist aber raffinierter. Jean Paul unterlegt den Text Schmelzles mit Anmerkungen, und zwar ohne Zuordnung zu einem Stichwort, und kann hier z.B. schlussfolgern, dass Schmelzle gut predige oder kann ihm zeitgeistige Prediger gegenüberstellen. Diese Anmerkungen äußern sich ironisch lobend über die zeitgenössische theologische Welt, die sammle, was in anderen Wissenschaften und der Dichtkunst erkannt worden sei – als Erbin ihrer (früheren) Magd, der Philosophie.

Die briefliche Erzählung Schmelzles vermittelt Jean Pauls kritische Botschaft subtiler. Wie in der angefügten „Beichte des Teufels“ unterlässt sie jede Kritik, die als eine des realen Autors positionell identifiziert werden könnte (z.B. die ironische Kritik an einer „guten Predigt“ oder die an der Zwangsvorstellung, beim heiligen Abendmahl spöttisch lachen zu müssen). Dass und wie der briefschreibende Prediger Schmelzle in seiner Naivität sich selbst demontiert, ist mithin eine lustig daherkommende Bußpredigt an lutherische Prediger, auch und gerade in der konventionellen Variante, wie Schmelzle sie verkörpert. Der wahrhaft lutherische, nämlich: nicht gesetzlich auftretende Bußprediger ist also der Autor Jean Paul. Seine Satire öffnet die Tür für das Evangelium – immerhin für das einer sozusagen unverdienten „Löwin“ in Gestalt einer liebenden Frau.

Jean Pauls „Charakter-Bild“ des lutherischen Pfarrers Attila Schmelzle aus dem Jahre 1809 gehört einer dramatisch veränderten Situation an, in der die allzu hohen Fortschritts- und Freiheitserwartung der Zeit vor 1790 sich enttäuscht sehen; die Satire hat darum auch eine eminent ent-täuschende und insofern konstruktive Seite (ganz anders reagiert Friedrich Schleiermacher in der Weihnachtsfeier, 1806). Jean Pauls Merkblätter (1820) formulieren so: „Es ist weniger daran gelegen, dem untergrabnen Christenthum, das der scharf und schärfer fortdringende Scharfsinn der Philosophie [...] und die freiere Exegese bald auflösen wird, noch einen Stoß zu geben, als schon im Voraus für eine solche Zukunft alles Heilige neu zu befestigen und weniger untergrabend als bauend zu handeln“ (Nr. 1249); „Da der Mensch ein Bedürfnis des Unendlichen und Wunderbaren hat: so will ihm ein aufgeklärtes Christenthum aus Mangel daran kahl und leer erscheinen. Aber zeigt ihnen nur das Unergründliche im Welt- und Lebensbau: so habt ihr mehr als ergänzt“ (Nr. 1254).

C. Materialien

Theologische:

Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, Greifswald 1748, Leipzig 111794, kritische Ausgabe hg. v. Albrecht Beutel u.a., Tübingen 2006

Johann Joachim Spalding, Von der Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, Berlin 1772, ³1791, kritische Ausgabe hg. v. Tobias Jersak, Tübingen 2002

Georg Friedrich Seiler, Die Religion der Unmündigen, Erlangen 1772, 61777

Georg Friedrich Seiler, Allgemeines Lesebuch für den Bürger und Landmann, Erlangen 1791, 121802

Georg Friedrich Seiler, Über die Rechte und Freiheiten protestantischer Prediger in liturgischen Sachen, Erlangen 1795

Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, Halle 1806, ²1826, kritische Ausgabe Berlin / New York 1995 (KGA I/5)

Literarische:

Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. 3 Bde., Berlin/Stettin 1773/1776 (mit Illustrationen von Daniel Chodowiecki), Frankfurt a.M./Berlin 1986

Johann Wolfgang Goethe, Briefe des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. Aus dem Französischen, Frankfurt a.M. 1773

Johann Heinrich Voss, Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1783-1784), Königsberg 1795

Walther Killy, Wolfgang Perels (Hg.), Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. IV/1: 18. Jahrhundert, München 1983

Hans-Egon Hass (Hg.), Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. V: Sturm undDrang, Klassik, Romantik, München 1966

D. Arbeitsanregungen

Gute Überblicke über die Kirchengeschichte (im Rahmen der intellektuellen, kulturellen und politischen Gesamtentwicklung) im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhundert, über die Verfassung und Entwicklung der Pfarrerstandes, speziell über die Reformen der Homiletik (Predigt), der Katechese (Schul- und Religionsunterricht) und des Gesangbuchs bieten auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung:

Albrecht Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009

Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., 8 Bde. und Reg., Tübingen 1998-2007 (RGG4), besonders die Artikel Aufklärung, Bibelkritik, Gesangbuch, Gottesdienst, Katechese, Pfarrer, Predigt.

Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde. und Reg., Berlin / New York 1977-2004 (TRE), Studienausgabe 2006

Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18 Jahrhundert, hg. v. Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann, München 2005

Über die meisten oben genannten Namen finden sich Artikel auch in der RGG4, im Bio-Bibliographischen Kirchenlexikon, hg. v. Traugott Bautz (auch unter www.bautz.de/bbkl) und in Wikipedia.

Für den Zusammenhang von Literatur und Theologie vgl. neben den Literaturgeschichten:

Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen ²1968

Gerhard vom Hofe, Peter Pfaff, Hermann Timm (Hg.), Was aber bleibet, stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie der Goethezeit, München 1986 (hierin: Rudolf Bohren, Zwischen Heros und Hasenfuß. „Des Feldpredigers Reise nach Flätz“ –Jean Paul als lutherischer Prediger, S. 181-193)

Jan Rohls, Gunter Wenz (Hg.), Protestantismus und Literatur, München 2004 (hierin: Walter Sparn, „Der Messias“. Klopstocks protestantische Ilias, S. 55-80; Jan Rohls, „Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“. Friedrich Nicolais aufgeklärtes Christentum, S. 81-105)

Andrea Ring, Jenseits von Kuhschnappel: Individualität und Religion in Jean Pauls Siebenläs, Würzburg 2005

E. Ungekürzte Texte

Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten; nebst der Beichte des Teufels bei einem Staatsmanne: I/6, S. 7-68 bzw. 76; Erläuterungen des Hg.: ebd. S. 1239-1246.

Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, hg. v. Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. Frankfurt a.M. 1996

Selberlebensbeschreibung (1818/1819), postum hg. v. Christian Otto, 1826, in: Jean Paul, Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften, hg. v. Helmut Pfotenhauer, München/Wien 2004, S. 157-235.

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