Jean Pauls ICH-Suche - Schritte (9)
von Ortwin Beisbart
Übersicht und Struktur des Materials zu "Jean Pauls Ich-Suche - Der Mensch als Titan"
Texte "Jean Pauls Ich-Suche - Der Mensch als Titan"
2/29 Der Anti-Titan Albano und Idoine, seine Partnerin
Es sollte deutlich sein, dass alle Partner, die sich um Albano bemühen, alle, denen er begegnet und sich ihnen ein Stück weit anschließt, sie in ihrem Wesen erkennen will und auch annimmt, ja liebt, zu seiner Selbstfindung beitragen, indem sie ihn bilden, aber auch, indem er erkennt, das sie alle ein Stück seines eigenen Wesens nicht nur repräsentieren, folglich auch Anerkennung und Zuwendung erfahren dürfen und sollen.
Aber er soll der sein, der schließlich die, die er überlebt oder die aus seinem Leben sich ver-abschieden, in sich aufnimmt – und so nicht der geniale Große, nicht das Genie, nicht der Titán – wohl aber das Ich ist, das eine werdende Identität gewinnen kann, der hohe Mensch.
Es sollte erkennbar geworden sein, dass diese Biographie demnach nicht auf die Beziehungen verzichten kann, die gewesen sind – und weiterhin nicht sich abkapseln darf in sich selbst – in sich gekrümmt – sondern seine Fühler ausstrecken muss: In die Welt der anderen – in die Welt der Realität – und in die andere Welt: Erinnerung und Hoffnung hat dies Jean Paul genannt.
Die Weisen der Liebe und die partnerschaftliche Kommunikation sind der entscheidende Handlungsimpuls des ganzen Romans. Und wo es um die Lebenspartnerin geht, auch im Sin-ne der Aufgabe Albanos als künftiger „weiser Fürst“, ist die Suche umso entscheidender.
Nach all den Katastrophen mit Liane, Roquairol und Schoppe scheint schon vorgeprägt, dass die Gespräche anders sein müssen. Eine erste Begegnung mit Idoine zeigt das. Text 46
So begegnen ihm schließlich zwei Figuren auf seiner Lebensbühne, in einem künftigen Leben, das sich zudem ja nicht im Nichtstun der höheren Stände, sondern in der Verantwortung für sein Land, erfüllen soll. Siebenkäs, hier der Doppelgänger Schoppes („ohne dessen humo-ristische Selbstvernichtung“) ist der eine, den der Leser auch aus anderen Romanen kennt (Siebenkäs). Er wird hier aber nur kurz gestreift.
Die hier entscheidende Partnerin ist Idoine, sowohl im Aussehen die Doppelgängerin Lianens, aber auch ihr charakterlich sehr ähnlich nur „ohne deren zu inniges Geisterbündnis“ (so Max Kommerell 1933, S. 266), also näher an einer lebbaren Realität.
„Sie besitze [so der Bericht Roquairols an Albanao] nach allen Vorzügen, z.B. der Heiligkeit, der Güte, des entschiedenen Charakters, der sich sogar auf dem Throne sein eignes Los und Leben aussucht, ferner der Liebenswürdigkeit, […] noch den Vorzug der täuschenden Ähn-lichkeit mit Lianen.“ (3, 397, Z.12-17; 73. Zykel). Deshalb sei sie aber die angefeindetste.
Idoine ist angesichts der sonstigen Menschen der Regenten aus Haarhaar eine Ausnahmeer-scheinung, sie wird auch, soweit der Roman sie vorstellt – und dies geschieht allerdings reich-lich kurz – ein hohes Ideal.
Sie ist es deshalb auch, die ihm klar macht, dass seine Aufgabe es nicht ist, mit Waffen in den Krieg zu ziehen, und so die Errungenschaften der französischen Revolution zu verteidigen, hier jedoch vor allem zu flüchten, sondern sich den Aufgaben zu stellen, die auf ihn als Fürst warten.
2/30 Die Vereinigung mit Idoine
Nun aber sind die beiden ein Paar geworden. Doch das erste öffentliche Auftreten gilt der Beerdigung des Fürsten, also des Bruders Luigi, dessen Nachfolger Albano werden sollte. Text 47 (1) Aus der Grabrede Speners und (2) Gemeinsame Wahrnehmungen
Schließlich findet das Paar zusammen mit Juliette zur Umarmung und zum ersten Kuss:
„…schautet auf zum schönen Himmel (rief die freudentrunkene Schwester den Liebenden zu)‚ der Regenbogen des ewigen Frieden blüht an ihm, und die Gewitter sind vorüber, und die Welt ist so hell und grün – wacht auf, meine Geschwister!’ –„ (Schluss, S. 830, Z.13-17)
2/31 Schlussreflexionen
Jochen Golz, dessen Interpretation des Romans mehr als die anderer darauf beharrt, dass Jean Paul mehr meint als ein Idyll der schwerelosen Unabhängigkeit, resümiert dennoch über Jean Pauls Menschenmodell:
„Subjektivität ist Ort religiös situierter humaner Widerständigkeit und Selbstbehauptung“.
Ist also doch das Ich nur als eine feste Größe, in Widerständigkeit gegen die Umwelt und in Selbstbehauptung auf sich selbst das Vorbild, vielleicht sogar das erreichbare Ziel? Was wären dann die anderen, die immer Teil des eigenen Selbst sind, in Distanz zwar, aber doch nicht völlig ablösbar? Dass weder der Philosoph Fichte noch der Philosoph Plato Jean Paul eine zureichende Antwort geben, dürfte klar geworden sein.
Es gibt noch seinen Freund, den „Gefühlstheologen“ Friedrich Heinrich Jacobi.
Dies geschieht nicht mit Fichte, nicht nur mit Platon und nicht mit anderen „einkräftigen“ Mitteln, sondern am ehesten noch mit Jacobis Gefühlstheologie. Text 48
Doch die Reflexion Albanos kurz vor dem Ende des Romans sollten Sie sich noch etwas ge-nauer ansehen.
Die daran angehängte Interpretation von Jochen Golz aber könnte auch zu einem Widerspruch reizen. Text 49
2/32 Jean Paul weiterdenken
Vielleicht haben Sie schon bei Text 48 über eine eigene Stellungnahme zur Frage: Eine Suche nach dem Ich nachgedacht, die ihre eigenen Überlegungen vom Anfang dieses Projekts er-gänzen oder verändern könnte.
Was ist nun die Identität des hohen Menschen? Ziehen Sie alle Überlegungen heran, die ihn im Durchgang durch dieses Modell begegnet sind – besonders auch die von Lévinas in Text 4.
Weitere Anregungen:
• Sie könnten versuchen, Jean Pauls „Konstruktion eine Ichs“ als einer ausgleichenden und doch im Werden befindlichen Summe der Einkräftigkeiten seiner Partner zu diskutieren und etwa ein Standbild zu bauen und zu beschreiben, in dem die Partner Albanos in ihrer Bedeutung sichtbar werden.
• Sie könnten dazu auch die Kommentierung der „Einkräftigkeit“ durch Max Kommerell aus seiner Titan-Interpretation heranziehen Text 49 (3. Anregung).
• Sie könnten versuchen, das Menschenbild mit dem der deutschen Klassik zu vergleichen Schillers tragisches Welt- und Menschenbild und Goethes humanes Menschbild im Ro-man „Wilhelm Meister“ oder das Bild des Faust: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Text 49 (4. Anregung)
• Sie könnten aber auch versuchen, weiter über aktuelle Menschenbilder nachzudenken, vor allem unter dem modernen Gedanken der Unmöglichkeit, nur „ein Ich“ sein zu können. Vergleichen Sie den Buchtitel und die Ausführungen des Autors Richard David Precht: Wer bin ich und wenn ja wieviele (2007)?
Jean Paul: Der Mensch ist nie allein – das Selbstbewustsein macht, daß immer 2 Ichs in einer Stube sind. Dichtungen 2. 1797. In: III,6, S.28, Nr. 54.
• Sie sollten auch das Menschenbild der paulinischen Theologie vergleichen, wie es im Römerbrief des Apostels Paulus zu finden ist (bes. in Kap. 3) und wie es dann von Luther als seine Erkenntnis der „Rechtfertigung“ herausgearbeitet wurde: „Gerechtfertigt ist der Mensch vor Gott, allein aus Gnade, ohn’ all Verdienst und Würdigkeit“.
• Vergleichen Sie abschließend die These, die der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler in seinem Hauptwerk „Aufschreibesysteme 1800-1900“ vertreten hat: Identität sei keine Leistung eines Individuums, sondern sie werde ausschließlich geformt von den Einflüssen der umgebenden Kultur, ja vor allem geformt von den jeweils vorhandenen medialen Möglichkeiten, Identität „aufzuschreiben“ (!). Und Jean Paul, wie seine Zeitgenossen, die den Genie- und Titangedanken formuliert haben, hatten im Wesentlichen (nur) die Möglichkeit, dies mit Sprache zu tun, die zudem deutlich auch religiös und metaphysisch geprägt war. Es war eine Sprache, die große Ideen und große Gefühle entwickeln ließ. Heute hingegen hätte die Vielfalt medialer Techniken die Idee einer Identitätseinheit, eines geschlossenen Ich aufgelöst: Computer, Bilder, Filme, Mode, die Schnelligkeit und Zufälligkeit sowie Schnelllebigkeit der Äußerungen und ihrer Übermittlung, die Vielstimmigkeit der Erwartungen verschiedener kultureller Gruppen, die Zwänge, die den Individuen damit entgegenkommen, also Präsenz im Netz, als Objekt von Mobbing usw. fragmentieren alle Ganzheit oder Vielkräftigkeit. Damit sei „der Mensch überhaupt gestorben“ – „Ein Tod, demgegenüber der vielberedete Tod Gottes eine Episode ist.“
2/32 Eine nötige Ergänzung – ein Blick auf andere Erzählungen
Sie haben im „Titan“ Jean Pauls eine adelige Gesellschaft kennen gelernt – und dürfen sich zurecht fragen: Wo bleiben die anderen, die weder die Chance haben, ihr Leben, einkräftig und immer gefährdet, leben können, noch die Chance haben, sich zu der idealen Persönlich-keit entwickeln können wie der künftige Fürst von Hohenfließ, Albano.
In Jean Pauls Erzählungen begegnen durchaus Menschen aus anderen Schichten, die sich in kleinen Verhältnissen und beengter Lebensweise zurechtfinden müssen, ungebildet wie Rabette, immer hungrig wie das Schulmeisterlein Wuz, der sich sein Idyll selber schreibt. Im-merhin sind diese beiden, wie auch Quintus Fixlein, der trotz Aufstiegschancen oft von Todesangst bedrängt ist und Gianozzo, der sich über die Welt im Ballon erheben darf, noch mit gewissem Humor und einem Schuss Mitleid geschildert, so dass sie das Glück des Lebens als Wechselbad zwischen Hoffnung und Schmerz erfahren können.
Andere Figuren des Autors erfahren den oft beißenden Spott über ihre Narreteien, ihre Skurri-lität und ihren Sadismus, wie der sich pädagogisch modern vorkommende Schulrektor Fälbel, der auf eine mechanistische Wissenschaftsidee fixierte Dr. Katzenberger, der Apotheker Nikolaus Marggraf („Der Komet“), der Feldprediger Schmelzle oder Fibel, der kauzige Erfinder der angeblich nach ihm benannten Lesefibel – mit dem, aber keineswegs nicht nur mit ihm, sich Jean Paul selber verspottet.
Doch das alles, wären noch weitere Kapitel einer Beschäftigung mit dem Autor auf der Suche nach geglückten Lebensentwürfen – und die Sorge, dass das mit dem eigenen Ich, mit einer immer nur zu suchenden Identität wirklich nicht so einfach zu lösen ist, für niemanden, erst recht nicht heute, im 21. Jahrhundert, könnte dabei noch erheblich zunehmen.
Jean Paul-Taschenatlas
Jean Paul-
Taschenatlas. Herausgegeben von Bernhard Echte und Michael Mayer im Nimbus Verlag. Publikation zur Litfaßsäulenausstellung Jean Pauls Orte im Jubiläumsjahr 2013. Rezensionen: NZZ, FNP, FLZ, JJPG, Neues Deutschland, Frankenpost, Das Blättchen, TP Würzburg, ZfGerm
Jean Paul Bildbiographie
Das Wort und die Freiheit. Jean Paul Bildbiographie. Hrsg. von Bernhard Echte und Petra Kabus im Nimbus Verlag.
Rezensionen: Neue Zürcher Zeitung, Fränkischer Sonntag, CULTurMAG, Lesart, PAZ, ekz, Frankenpost u.a.
Pressespiegel
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Poesie und Information
Immer am Montag war Hundsposttag.
Zu Wochenbeginn versendeten wir einen Aphorismus von Jean Paul, und in unregelmäßigen Abständen informierte der Newsletter über Termine und Veranstaltungen im Jean-Paul-Jubiläumsjahr 2013.