Jean Pauls ICH-Suche - Schritte (7)
von Ortwin Beisbart
Übersicht und Struktur des Materials zu "Jean Pauls Ich-Suche - Der Mensch als Titan"
Texte "Jean Pauls Ich-Suche - Der Mensch als Titan"
2/22 Albanos Bilanz
Lesen Sie zunächst Albanos eigene Gedanken:
„Er sah den Himmel an und den Tag und sein Herz. »Ja, so ist denn das Leben und die Liebe!« (sagt' er) »Ein gutes, rechtes Feuerwerk, besonders wenn man eine Linda durch viele Zurüstungen haben soll! Lange steht es da mit einem bunten hohen Schaugerüst, voll Statuen, mit kleinern Gebäuden, Säulen und wunderlich und verspricht noch mehr, als es schon verkleidet und verrät – Dann kommt die Nacht in Ischia, ein Funke springt, die Formen reißen, es schweben weiße, helle Paläste und Pyramiden und eine hängende Sonnenstadt am Himmel – in der Nachtluft entfaltet sich gewaltig eine rege fliegende Welt zwischen den Sternen und füllt das Auge und das arme Herz, und der glückliche Geist, selber ein Feuer zwischen Himmel und Erde, schwebt mit - einen ganzen Augenblick lang, dann wirds wieder Nacht und Wüste, und am Morgen steht das Gerüst da, dumm und schwarz.«“ – (Hanser 3,760; 131. Zykel)
Entscheidend für Albano auf seinem Weg des Heranwachsens, der Entwicklung seiner Ich-heit mögen Elemente von Wissen, von kultureller Bildung sein. Noch entscheidender sind aber die Begegnungen mit anderen Menschen, auch und gerade dort, wo erkennbar ist, dass sie selbst nur „einkräftig“ sind, sich vielleicht als Titanen vorkommen, aber mit ihrer inneren Zwiespältigkeit nicht fertig werden oder auch als bedauernswerte Geschöpfe ohne eigene Identität, aus verweigerter Bildung (wie Rabette) oder aus falscher, opportunistischer Anpassung (wie Gasparo), aus bloßer Taktik (die eigentlichen Eltern, das Fürstenpaar Hohenfließ) oder einer einseitigen Jenseitsfrömmigkeit (Spener).
Wenn wir versuchen, um den selbst noch unfertigen Anti-Títan Albano einen Ring von Beziehungen zu zeichnen, so könnte dies vielleicht gelingen, wenn wir uns noch einmal der Frage „Wie kann ein Ich aussehen?“ stellen, wie wir sie oben als erste Bilanz angedeutet hatten und wie Sie eine solche vielleicht anhand von Text 15 sich schon einmal skizziert hatten.
Die Beziehungen zu all diesen Figuren sind je verschiedene, aber notwendige und widersprüchliche „Teile“ des eigenen Ichs.
Eine Positionierung könnte vielleicht folgendermaßen aussehen:
Die andere Wirklichkeit
als philosophisch- als göttliche und allein
idealistische religös zugängliche
Spener Die von der Rea-
Liane lität gelöste Ichheit
der Weltfremden
Die realitätsorientierte Linda Einkräftigkeit
Albano
Julienne
Eleonore Die von der Gesell-
schaft bestimmte -
Gasparo Einkräftigkeit der
von Gefühlen Dian Opportunisten und
zerrissene Einkräftigkeit Von Kultur und Intriganten
der Haltlosen Wissen bestimmte Hasenreffer
Roquairol Einkräftigkeit
Wehrfritz
Die schlichte Rabette
Bravheit das naiv undurch-
schauende Leben
Die Wirklichkeit bloßer Faktizität
2/23 Schoppe
Noch haben wir nicht alle Figuren kennen gelernt, vor allem nicht den väterlichen Freund, der Albano seit langem begleitet: Schoppe, der als Bibliothekar vorgestellt wird, also ein „Büchermensch", so wie auch Jean Paul selber einer war.
„Man denke sich einen Menschen, der die Griechen und Römer und dan die Neuern und Neusten durchgelesen – der in die Hebräer geblikt – der mit allen dichterischen Schönheiten schon mehrere Flitterwochen zugebracht – der blos noch einige Tage nach der [Bücher-] Messe glüklich ist, wo er die Novitäten durchflattert oder durchwatet […] – so hat man mich vor sich stehen und sich selbst.“ (Notiz Jean Pauls Nr. 368 aus Ideen-Gewimmel)
Wir sind als Leser inzwischen schon mehr geübt, die Eigenheiten – und Einseitigkeiten als Einkräftigkeiten der Mensche, hier der Figuren, die Albano begegnen und ihn in ihren Bann ziehen, zu deuten.
Nehmen wir zwei Ausschnitte. Der erste stammt von Wehrfritz, der Schoppe einmal von seiner Wohnung neben der Kirche belauschen konnte.
Gleich anschließend an diese Schilderung bekommt Albano einen Brief Schoppes zu lesen.
Schoppe ist gewissermaßen philosophischer Kopf, der kritisch, witzig, immer bedacht, allzu rührende Szenen und Gefühle zu durchkreuzen, auch solche der Trauer (S. 229) und letztlich doch ohne Orientierung, wie sich an verschiedenen Stellen zeigen lässt.
„Wir sind artige, mit Silber überzogne Figuren, in einem elektrischen Tanze begriffen, und vom Funken springen wir auf, ich bewege mich zum Glücke doch noch …“ (vgl. auch Hanser 3, 228, Z.12ff. oder 229, Z.5ff. (47. Zykel) (http//:gutenberg.spiegel.de/Jean Paul/Titan (Kapitel 53))
Oder in einer Szene, in der er sich so vorstellt wie Roquairol, durch einen scheinbaren Selbstmord mit einem Sprung ins Wasser. Was bei Roquairol aber theatralisch ich-bezogen ist, soll hier witzig verstanden sein, weltironisch, aber nicht so resignativ, sondern dem Getümmel der Welt überlegen. Text 40
2/24 Schoppe der Philosoph
Albano liebt den älteren Freund, den 40jährigen belesenen Bibliothekar, ähnlich einer Figur Jean Pauls aus anderen Romanen, der dort Leibgeber heißt – ebenfalls der Versuch, zwei Ich-Seiten mit zwei Namen zu benennen – und nicht nur im gleichen Alter wie sein Autor ist, sondern ihm auch im Denken und Dichten sehr ähnlich scheint.
Schoppe sieht sich nicht nur so, er ist Philosoph, einer derer, die im Selbstdenken über sich, über das Ich oder das Ich als Über-Ich nachdenken, so wie es Fichte tat (Text 3), das Zitat von Walter Schulz über Fichte).
Jean Paul hat sich nicht damit zufrieden gegeben, ein so hochfliegendes Denken an Schoppe zu demonstrieren, sondern zusätzlich einen „komischen Anhang“ zum „Titan“, eine Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“ [ein Schlüssel zu Fichtes oder Leibgebers oder Jean Pauls Denksystem] – in der er die Gefahren der Selbstüberhebung des Ich, das sich selbst zu Gott macht, herausarbeitet. Ein Abschnitt trägt als Thema das Stichwort „Leibgeber“. Text 41 Clavis Fichtiana
Aber er ist zugleich der Welterfahrene, in dem Sinne, dass man die wahre Realität gegenüber dem schönen Schein herausarbeiten und unverstellt zeigen muss: Ob man ihn nun deshalb den kompromisslosen Aufklärer nennen darf, bleibt allerdings zu überlegen, wenn man bedenkt, mit welchen Mitteln er auch humoristisch spricht.
Schoppe ist Realist genug, um die Welt kritisch zu sehen – und Idealist, indem er sich in dieser Welt selbst überhebt.
Insofern scheint er mehr zu sein als ein „Einkräftiger“, wie Jean Paul die nennt, denen die Kraft dazu fehlt, ein vollständiges Ich zu sein – denn Schoppe hat ja die reale Welt und die philosophische, ja die religiöse andere Welt gleichermaßen im Blick. Text 42
2/25 Das Ende Schoppes
Schoppe wird später als wahnsinnig eingesperrt – „Wahnsinn stellt sich als die absolute Autonomie des denkenden und handelnden Ichs dar.“ (Golz, S. 196).
Auslöser ist sein vergebliches Eingreifen in menschliche Beziehungen, sein Misstrauen gegen die Politik (auch die Intrige oder Verduneklungen der Herkunft von Albano) auch wegen Gaspard Cesara – und lässt sich auch von Albano nicht mehr heilen, der ihn zu sich holt. Und nach einer Schreckensvision und einem Kampf stirbt er, als ihm sein eigentliches, sein anderes Ich – es ist Siebenkäs, auch der eine Gestalt eines anderen Romans von Jean Paul – begegnet.
Der Erzähler fügt den Kommentar an:
„Nun hast du hienieden geendigt, strenger, fester Geist, und in das letzte Abend-Gewitter auf deiner Brust quoll noch eine sanfte, spielende Sonne und füllte es mit Rosen und Gold. Die Erdkugel und alles Irdische, woraus die flüchtigern Welten sich formen, war dir ja viel zu klein und leicht. Denn etwas Höheres als das Leben suchtest du hinter dem Leben, nicht dein Ich, keinen Sterblichen, nicht einen Unsterblichen, sondern den Ewigen, den All-Ersten, den Gott. - - Das hiesige Scheinen war dir so gleichgültig, das böse wie das gute. Nun ruhst du im rechten Sein, der Tod hat von dunkeln Herzen die ganze schwüle Lebens-Wolke weggezogen, und das ewige Licht steht unbedeckt, das du so lange suchtest; und du, sein Strahl, wohnst wieder im Feuer.“ (Hanser 3, S.800, Z. 35 – S.801, 10) (139. Zykel)
Dem kann Albano nur seinen großen Schmerz über den Verlust ausdrücken. „Albano ließ seine Tränen stürzen und nahm die zweite tote Hand und sagte: ‚Wir fassen treue, reine, tapfere Hände.’“ ( 3, S. 803; 140. Zykel))
Jean Paul-Taschenatlas
Jean Paul-
Taschenatlas. Herausgegeben von Bernhard Echte und Michael Mayer im Nimbus Verlag. Publikation zur Litfaßsäulenausstellung Jean Pauls Orte im Jubiläumsjahr 2013. Rezensionen: NZZ, FNP, FLZ, JJPG, Neues Deutschland, Frankenpost, Das Blättchen, TP Würzburg, ZfGerm
Jean Paul Bildbiographie
Das Wort und die Freiheit. Jean Paul Bildbiographie. Hrsg. von Bernhard Echte und Petra Kabus im Nimbus Verlag.
Rezensionen: Neue Zürcher Zeitung, Fränkischer Sonntag, CULTurMAG, Lesart, PAZ, ekz, Frankenpost u.a.
Pressespiegel
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Poesie und Information
Immer am Montag war Hundsposttag.
Zu Wochenbeginn versendeten wir einen Aphorismus von Jean Paul, und in unregelmäßigen Abständen informierte der Newsletter über Termine und Veranstaltungen im Jean-Paul-Jubiläumsjahr 2013.